Donnerstag, 7. Juni 2007

Lektüre und Erinnerung

Zur Zeit lese ich Umberto Ecos Roman “Die Geheimnisvolle Flamme der Königin Loana” (DTV 2006). Der Roman handelt vom einem nach einem Unfall aus dem Koma erwachenden Mann, der sein persönliches Gedächtnis verloren hat. D.h. er weiß nicht mehr, wer er ist, erkennt seine Frau und Kinder nicht mehr, muss Mailand, die Stadt in der er lebt, neu entdecken.
Doch er ist eine wandelnde Enzyklopädie; er kennt alle Gedichte, die er einmal auswendig gelernt hat, weiß historische und geographische Daten etc.

Damit er nun auch seine persönliche, private Geschichte sich wieder ins Gedächtnis rufen kann, verbringt er eine Zeit lang in dem Haus, in dem er aufgewachsen ist, und in dem er - wie sich zeigt - auch den Grundstein für sein umfassendes Wissen gelegt hat. Durch die Lektüre nicht nur von Jugendbüchern und Romanen aus der Bibliothek seiner Eltern und Großeltern, sondern auch durch eine einbändige Enzyklopädie, die er als Junge offenbar nicht nur als Nachschlagewerk benutzt hat, sondern auch vom Anfang bis zum Ende “gelesen” hat.

Dies war die erste Enzyklopädie meines Lebens gewesen, und ich muß wirklich sehr, sehr oft und lange darin geblättert haben. Die Ränder der Seiten waren abgegriffen, viele Stichwörter waren unterstrichen, manchmal standen kurze Bleistiftnotizen in einer kindlichen Handschrift daneben, meist zur Erklärung schwieriger Termini. Dieser Band war bis zur Erschöpfung, bis zum Gehtnichtmehr benutzt, gelesen und wiedergelesen worden, er war im Wortsinn zerlesen [im Original kursiv], viele Seiten lösten sich schon ab. (S. 123 f.)


Beim Lesen des Kapitels aus dem diese Zeilen stammen, habe ich an meine Kindheit und Jugend denken müssen, als eines der Bücher, mit dem ich mich am meisten und liebsten beschäftigt habe, die “Welt von A bis Z” gewesen war. Ebenfalls eine einbändige Enzyklopädie, welche in den Nachkriegsjahren in Österreich sehr verbreitet war.
Ich glaube dieses Lexikon hat den Grundstock für mein heutiges Allgemeinwissen gelegt, was ich damals, schon im Volksschulalter, gelesen und gelernt habe ist stärker in mein Gedächtnis eingeprägt als vieles was ich später erfahren habe, gelernt habe bzw. lernen hätte sollen.
Und nicht nur der Grundstein meines Wissens wurde hier gelegt, viele Artikel haben meine Phantasie auch angeregt, mich in Gedanken und Tagträumen auf den Spuren von David Livingstone und Henry Morton Stanley Afrika entdecken lassen; die Illustrationen der unterschiedlichen Hausformen der Erde ließen mich in afrikanischen Kraals und auf Pfählen gebauten Langhäusern polynesischer Völker übernachten, ..., ließ mich mit Robert Scott und Roald Amundsen um die Wette den Südpol entdecken ...

Diese “Welt von A bis Z” gibt es nicht mehr. Irgendwann ist dieses vollkommen zerfledderte Buch, welches ich ja schon von meinen älteren Geschwistern übernommen hatte, einer Aufräumaktion zum Opfer gefallen. Aber ich bin gestern am Abend in den Keller gegangen und habe in dem - im Laufe der Jahre leider sehr klein gewordenen - Bücherschatz der sich da noch befindet, nach anderen Büchern gesucht, die mir als Bub wichtig waren: “Warum? Wozu?” und “Wie? Wann? Wo?”. Der Autor hieß Karl Hartl, sogar daran konnte ich mich wieder erinnern.
Und ich habe die Bücher gefunden. “Warum? Wozu?” trägt den Untertitel “Von Dingen, die die Welt verändern”; das andere “Geschichte der kleinen und großen Dinge”.
Ob nun über den Elfenbeinhandel, der Tatsache, dass die Mayas bereits mit Bällen aus Gummi gespielt haben oder das Holz als Baustoff für Fabrikshallen in denen Säuredämpfe frei werden im Gegensatz zu Stahl haltbarer ist: all dies und noch viel, viel mehr habe ich aus diesen und ähnlichen Büchern in Kombination mit der “Welt von A bis Z” erfahren.

Dazu kommt der gesamte Schatz der “klassichen” Jugendliteratur von Dickens “Oliver Twist” und “David Copperfield”, Stevensons “Schatzinsel”, Defoes “Robinson”, Sonnleitners “Höhlenkinder”, etc. etc. ... es ist müßig, sie alle zu nennen ....

Manchmal frage ich mich, ob mich diese Welt der Bücher und die Welten der Phantasie, in die mich die Bücher geführt haben, mehr geprägt haben zu dem, der ich heute bin, als meine reale Umwelt - die ich ja, teilweise zumindest, auch heute nicht bereit bin anzuerkennen und zu akzeptieren.


[a.k.; Alle Rechte vorbehalten]



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